„Aktive Mobilität macht Städte anziehend“

Philippe Crist, Mobilitätsvordenker der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, wirft einen neuen Blick auf das Zufußgehen und Radfahren. Sein neues Paradigma nennt er aktive Mobilität. Das klingt nicht nur besser als nichtmotorisierter Verkehr, sondern führt auch weg von reinen Umweltargumenten und Verzichtsappellen. Für eine wirkliche Verkehrswende brauche es attraktive Lebensstile, um die Menschen zu motivieren, sagt Christ im Interview. Ein Gastbeitrag. 

BildHerr Crist, der Begriff Aktive Mobilität soll Zufußgehen und Fahrradfahren in ein neues Licht rücken. Wie hat sich der Blick darauf in den vergangenen Jahren verändert?

Aktive Mobilität hat Eingang gefunden in politische Debatten sowohl über Verkehr als auch über Stadtentwicklung. Das ist sehr hoch einzuschätzen. Das Wichtigste dabei ist, dass viele Menschen, auch viele Entscheidungsträger, jetzt über die einfachen Entweder-oder-Lösungen hinausblicken, wenn es um Zufußgehen und Fahrradfahren geht.

Diese Verkehrsmittel wurden vielfach nur als Hindernis angesehen und die Straßen in unseren Städten auf ihre reine Transportfunktion reduziert. Das war ein historischer Fehler. Wenn die Straßen voller Fahrzeuge sind, leidet unser Körper genauso wie unsere Psyche. Lebendige Straßen tragen zu einem gesunden städtischen Leben bei. Die Tatsache, dass viele Städte dieses Potenzial nunmehr ausdrücklich erkennen, ist eine der wichtigsten Entwicklungen der vergangenen Jahre.

Sie sind sowohl französischer als auch US-Staatsbürger. Was beobachten Sie dies- und jenseits des Atlantiks, wenn es um Mobilitätspolitik und Stadtentwicklung geht?

Klar, es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden. Aber ganz allgemein gilt: Die meisten Menschen wollen ihre Lebensbedingungen verbessern. Ich habe diesen „Durst nach Verbesserungen“ überall auf der Welt gesehen, auch wenn die Aktionen und Strategien variieren.

In Frankreich haben wir beispielsweise einen detaillierten Planungsprozess mit urbanen Mobilitätsplänen, die Plans de déplacements urbains, die eine Orientierung für die strategische Entwicklung des Verkehrs in den großen Städten geben. Diese Pläne umfassen Zufußgehen, Radfahren, Sicherheit, Parkraum-Management und Autonutzungs-Management und führen gleichzeitig zu einem strukturierten Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern.

In den USA ist dagegen der Ansatz zur strategischen Planung viel stärker ad hoc. Auf bestimmten Gebieten können Resultate schnell und dynamisch erzielt werden. Die rasche Kehrtwende in Indianapolis von einer motor city zu einer Stadt mit Fahrradinfrastruktur und einer extremen Zunahme des Radfahrens ist ein gutes Beispiel.

Spannend in Frankreich ist die Renaissance der Straßenbahn. Was können wir daraus lernen?

In der Tat hat Frankreich diese Renaissance angeführt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Frankreich die Straßenbahn in den 1960er und 1970er Jahren für eine autozentrierte Entwicklung geopfert hatte. Andere Städte in Europa haben die Tram nie aufgegeben.

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Viele Städte haben vor 50 Jahren ihre Straßenbahn abgeschafft. Einige machten dabei nicht mit – und profitieren jetzt davon. (Foto: Michael Schulze von Glaßer)

Nun haben sich die Diskussionen in Bordeaux und in Montpellier darauf konzentriert, wie die Straßenbahn am besten mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln sowie mit Zufußgehen und Fahrradfahren verknüpft werden kann. Das ist eine nützliche, ja gesunde Art der öffentlichen Debatte in Städten. Das kann für Interventionen in allen Dimensionen und Bereichen genutzt werden – beim Überdenken der traditionellen Busdienste oder bei der Schaffung von Korridoren für Schnellbussysteme.

Noch mal der Blick über den Atlantik: Das Bild ging um die Welt, wie der Times Square in New York für Autos geschlossen wurde – das war wirklich eine Überraschung und eine Erfolgsgeschichte. War das nur eine Eintagsfliege oder der Anfang von etwas Großem?

Für mich lag die Überraschung eher darin, dass die Stadt New York selbst einen Weg gefunden hat, denn es gibt immer mehr Kritiker als lautstarke Unterstützer, bevor eine Veränderung gelingt.

Das war schon genial: Die Einführung für ein halbes Jahr auf Probe gibt den Entscheidungsträgern den Mut, den es braucht, um solche Initiativen voranzutreiben. Sie wussten ja, dass die Bürger Erfahrungen mit der Aneignung des neu gewonnenen öffentlichen Raums sammeln konnten, bevor eine endgültige Entscheidung über eine dauerhafte Veränderung getroffen wird.

Übrigens erlaubte dieser Ansatz auch Stockholm bei der Einführung der congestion charge, einer City-Maut nach dem Verkehrsaufkommen, zu experimentieren. Ganz allgemein kann man sagen, dass dies ein vielversprechender Politikansatz bei Entscheidungen ist.

Wir stehen heute am Beginn einer globalen Energiewende. Auch das Verkehrssystem muss in Richtung einer postfossilen, dabei nachhaltigen Mobilität entwickelt werden. Was sind die wichtigsten Schritte in den kommenden Jahren?

Ich habe nicht das Gefühl, dass Klimaschutz und Energienachhaltigkeit als Motivation stark genug für die Verhaltensänderungen sind, die die Zukunft von uns verlangt. Die Leute nutzen ihre Autos ja nicht, weil sie Erdöl verbrennen wollen, sondern weil diese oft zur bequemsten Verkehrsmitteloption gemacht wurden. Attraktivität und Bequemlichkeit, das zählt bei der Verkehrsmittelwahl. Und so müssen wir das auch sehen, wenn wir Aktive Mobilität stärken und uns von der Dominanz des Autos lösen wollen – und das sollten wir.

Das bedeutet: Weg von Umweltargumenten und hin zu attraktiven Lebensstilen, um die Menschen zu motivieren. Und es erfordert Investitionen, die es leichter machen, in Städten zu Fuß zu gehen, Rad zu fahren und traditionelle wie neue öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen statt Auto zu fahren. Wenn Städte damit erfolgreich sind, werden sich die wesentlichen Vorteile wie Wirtschaftlichkeit, Gesundheit, Sicherheit, bessere Zugänglichkeit und geringere Kosten fortwährend einstellen, schon während die Energiewende auf dem Weg ist.

Um wirklich zu einer integrierten Verkehrspolitik zu kommen, plädieren Radfahrverbände für Aktive Mobilität als dritte Säule der Verkehrspolitik, die auf der gleichen Ebene etabliert sein soll wie der motorisierte Individualverkehr und der öffentliche Verkehr. Ohne ausdrückliche Etablierung von Aktiver Mobilität als integraler Teil der Mobilitätspolitik, so ihre Erfahrung, werden Zufußgehen und Radfahren weiter als überflüssiger nichtmotorisierter Verkehr abgewertet. Kann eine solche dritte Säule eine Triebfeder dafür sein, was wir wirklich brauchen?

Verkehrsmittel sind per se nicht darauf orientiert, wie sich Menschen in Städten bewegen. Die gleichen Leute können, je nach Tageszeit, Wochentag oder auch ihrer spezifischen Lebensphase ein, zwei oder alle drei dieser Arten von Verkehrsmitteln nutzen. Wenn man das mitbedenkt, dann macht ein personenorientierter Verkehrsplanungsansatz mehr Sinn, um die Struktur der städtischen Verkehrspolitik zu definieren, als ein von Verkehrsmitteln ausgehender Ansatz.

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Weg von Umweltargumenten und hin zu attraktiven Lebensstilen, fordert Philippe Crist. (Foto: João Pimentel Ferreira/Wikimedia Commons)

Zudem erleben wir derzeit einen Zeitenwechsel, bei dem viele neue Mobilitätsdienste entstehen, die die Grenzlinien zwischen den drei Verkehrsmittelarten verschwimmen lassen. Diese Unterscheidungen werden dann keinen Sinn mehr machen, wenn die Menschen Mobilität pro Kilometer kaufen statt nach Verkehrsmitteln. Was wir brauchen, sind Werkzeuge und Leistungsindikatoren, die uns helfen, bessere Mobilität für die Menschen zu ermöglichen, nicht für Maschinen!

Alte Paradigmen prägen noch immer die Debatten, neue wie die Aktive Mobilität sind noch nicht genügend verbreitet. Was brauchen wir in dieser Situation?

Paradigmen ändern sich nicht über Nacht. Wir haben viele große Wandlungsprozesse in städtischen Gebieten gesehen: von der menschlichen und der Pferde-Mobilität hin zu frühen Formen öffentlichen Verkehrs und zur autobasierten Mobilität. Der nächste Veränderungsschritt des Verkehrssystems in unseren Städten kann durch die digitale Revolution geformt werden. Diese Welt erlaubt ein vielfältigeres und harmonischeres Zusammenspiel der vielen Verkehrsmittel. Ich bin sicher, dann können Zufußgehen und Radfahren – entsprechend darauf zugeschnitten – im täglichen Mobilitätsmix der Menschen einen weit höheren Anteil erreichen.

Der Wandel hat begonnen. Gebraucht wird jetzt ein starkes Signal, eine ständige Erinnerung daran, dass Zufußgehen und Fahrradfahren für viele Wege die beste Option sind.

Philippe Crist ist Wirtschaftswissenschaftler und Organisator des International Transport Forum (ITF) der OECD. Crist arbeitet an alternativen Stadtverkehrskonzepten und ihrer politischen Umsetzung. Das Interview mit ihm erschien zuerst im Magazin movum – Briefe zur Transformation, einer Schwesterpublikation von klimaretter.info.

Interview: Manfred Neun, Übersetzung aus dem Englischen: Martin Held

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