Der Blick auf den Verkehr ist (zu) männlich

Ein Gastbeitrag von Katja Leyendecker zum Frauentag

If you want to know if an urban environment supports cycling, you can forget about all the detailed ‚bike ability indexes‘ – just measure the proportion of cyclists who are female.  Jan Garrard, Scientific American, 2009

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Von niederländischen und dänischen Städten abgesehen, legen Frauen weniger Wege als Männer mit dem Rad zurück: In Berlin beträgt das Verhältnis 2:3 (1), so wie in den meisten großen und mittelgroßen deutschen Städten. Unter ihnen gibt es nur eine Ausnahme: Bremen. Hier beträgt das Verhältnis ungefähr 1:1.

Warum ist das so? Radfahren ist von der vorhandenen Infrastruktur abhängig, und diese hat Einfluss nicht nur auf die tatsächliche Gefährdungslage, sondern auch auf das subjektive Sicherheitsempfinden. Wird dieses als hoch eingeschätzt und ist das Fahren nicht komfortabel, gehen nicht motorisierte Frauen eher zu Fuß oder benutzen den ÖPNV als Rad zu fahren.

Darüber hinaus unterscheidet sich aber auch das Mobilitätsverhalten der Geschlechter. Frauen legen mehr, aber kürzere Wege zurück, und sie verketten diese untereinander – auch durch Nutzung des Umweltverbundes oder indem sie zu Fuß gehen (2).

Rollenklischees und gesellschaftliche Erwartungen

Verkehrsverhalten findet nicht im luftleeren Raum statt. Es spiegelt vielmehr die gesellschaftlichen Ansprüche und Erwartungen wider, die an die Geschlechter gestellt werden. Nach klassischen Rollenvorstellungen werden Frauen eher als passiv/relational und Männer aktiv/agierend eingestuft  (3,4). Wer gegen diese stereotypen Rollenbilder verstößt, wird gesellschaftlich sanktioniert (siehe social learning theory). Nicht nur im Verkehr. Ich, zum Beispiel, habe das als Ingenieurin oft zu spüren bekommen.

Einerseits sollte ich als „Ingenieur“ agieren, also tatkräftig und entscheidungsfreudig auftreten. Andererseits war das mit der mir als Frau entgegengebrachten passiven Rollenvorstellung oft nicht zu vereinbaren. Ich war angeblich zu laut oder zu fordernd: Vorwürfe, die meine männlichen Kollegen für ähnliches Verhalten nicht zu hören bekamen. Somit war ich, als Ingenieurin, in einer Art Teufelskreis gefangen. Wo ich mich weder wehren (zu agierend), noch mich zurückhalten konnte (die Arbeit musste ja geleistet werden). Diesen paradoxen Erwartungen und Einschränkungen bin ich auch in der Kampagnenarbeit häufig begegnet.

80 Prozent der Entscheider und Macher im Transportbereich sind Männer

Hinzu kommt die politische und technische Entscheidungsfindung. Trotz steigender Zahlen von Frauen in technischen Ausbildungen und Berufen, ist der Transportsektor zu ca. 80 Prozent männlich dominiert, in Verwaltung, technischer Entwicklung bis hoch in die Politik- und Entscheidungsebene (5). Der weibliche Erfahrungsschatz kann so nur ungenügend eingebracht werden, die Erwartungen und Wünsche von Frauen werden nicht oder nur wenig berücksichtigt.

Wenn Frauen aber keine oder nur wenig Teilhabe nehmen können, ist der Erfahrungshorizont enger und werden folglich weniger gute, die Interessen aller berücksichtigende Entscheidungen getroffen und entsprechende Entwicklungen vorangetrieben. Mit Blick auf die Verkehrswende, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden und Infrastruktur für die kommenden Jahrzehnte gebaut wird, müssen daher dringend mehr weibliche (und andere, diverse) Perspektiven eingebunden werden.

Fahrradläden  noch immer eine Männerbastion

Auch die Radfahrbranche hat noch viel zu lernen. Ich denke da an Fahrradläden und wie ich dort bevormundet werde. Einen guten, entgegenkommenden, problemorientierten Service erhalte ich oft nicht. Mit der Beratung läuft es nicht rund. Mir wird nicht zugehört. Fahrradläden sind, meiner Erfahrung nach, oft noch immer eine Männerbastion mit wenig Bereitschaft, andere Erfahrungen gelten zu lassen und anderen Erwartungen zu entsprechen.

Ähnliches gilt für die Kampagnenarbeit, auch hier mache ich mit männlichen Mitstreitern häufig keine guten Erfahrungen: Die Atmosphäre ist gereizt, wenn Frau widerspricht oder Eigenes einbringen will, die großen coolen Egos schnell verletzt. Ein gesamtheitliches, gemeinsames Herangehen wird dadurch oft eingeschränkt oder sogar verhindert. Auch hier gilt wie in vielen anderen Kontexten: Männer, erklärt (uns) nicht immer die Welt, sondern hört einfach mal zu!

Fazit

Wenn es in der Frauenbewegung heißt:

Es geht nicht ums Geschlecht, es geht um die Frage, in welcher Art Gesellschaft wir leben wollen.

dann sagen wir Radaktivist*innen:

Es geht nicht (nur) ums Rad, es geht um die Frage, in welcher Art von Stadt wir gemeinschaftlich leben wollen.

Es geht auch um den gemeinschaftlichen Umgang und darum, welche Diskussions- und Lebenskulturen wir in unserem alltäglichen Miteinander bevorzugen. Die Verteilung des städtischen Raums spiegelt unsere Gesellschaft wieder. Das Rad kann da ein gutes Mittel sein, um neu zu verhandeln: Es fördert das demokratische Miteinander und emanzipiert die Gesellschaft.

Katja Leyendecker ist Mobilitätsexpertin und promovierte an der Northumbria University in Newcastle, UK, mit einer Doktorarbeit mit dem Titel „Women activists‘ experience of local cycling politics“. Neben einem Vergleich der Städte Bremen und Newcastle beschäftigte sie sich darin auch mit der Frage, warum Frauen eine andere Perspektive auf Mobilität und Radfahren haben und warum diese Perspektive bei der Verkehrswende stärker beachtet werden sollte.

Der vorstehende Text ist eine überarbeitete Version ihrer Keynote vom 27.04.2019 für die VeloWomen in Berlin.

Weiteres zu ihrer Expertise, ihren Ideen, Gedanken und weiterführende Links gibt es in ihrem Blog zu entdecken.

Nachweise

  1. Garrard J, Handy S, Dill J. Women and cycling. In: Pucher J, Buehler R, editors. City cycling. Cambridge, MA, USA: MIT Press; 2012.
  2. FGSV, Krause J. FGSV Gender und Mobilität [Internet]. 1995 [cited 2018 Jun 6]. Available from: https://www.fgsv.de/gremien/verkehrsplanung/grundsatzfragen/111-gender-und-mobilitaet.html
  3. Wood W, Eagly AH. A cross-cultural analysis of the behavior of women and men: Implications for the origins of sex differences. Psychological Bulletin. 2002;128(5):699–727.
  4. Tannen D. You just don’t understand! Women and men in conversation. New York. USA: HarperCollins Publishers; 1990. 342 p.
  5. Eurofound. European Quality of Life Survey 2016 [Internet]. 2018 [cited 2018 Mar 1]. Available from: https://www.eurofound.europa.eu/publications/report/2017/fourth-european-quality-of-life-survey-overview-report
  6. Eagly AH. When Passionate Advocates Meet Research on Diversity, Does the Honest Broker Stand a Chance? Journal of Social Issues. 2016;72(1):199–222.

 

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