Wo Erwachsene Radfahren lernen

Wie Radfahren funktioniert? Darüber machen sich die wenigsten von uns Gedanken. Auf zwei Rädern die Balance halten – eine Selbstverständlichkeit. Sich zum Linksabbiegen einfädeln – kein Problem. Schulterblick – ein Automatismus. Doch viele Erwachsene können nicht oder nicht richtig radeln. Weil sie es nie gelernt haben. Weil sie die Verkehrsregeln nicht kennen. Weil sie sich nach einem Unfall nicht mehr auf den Sattel trauen. In Berlin gibt es verschiedene Angebote, um das Radfahren als Erwachsener zu lernen oder seine Kenntnisse zu vertiefen. Ein Gastbeitrag von CLAUDIA LIPPERT (aus „radzeit“, dem Fahrradmagazin des ADFC für Berlin und Brandenburg, 2/2017)

Radfahren für erwachsene Anfänger | Outdoor

Die Handknöchel sind weiß vor Anstrengung. Mit beiden Händen hält Monika den Lenker des kleinen Rollers fest umklammert. Nur zaghaft rollt sie ein paar Meter geradeaus, wagt kaum, nach der Handbremse zu greifen. Nach zehn Minuten gibt sie schon kräftiger Schwung, steuert das Gefährt mutig in eine weite Rechtskurve. „Seit meiner Kindheit bin ich nicht mehr Rad gefahren“, erzählt die 50-Jährige. „In der Stadt bietet sich das nicht an.“

Doch seit kurzem hat Monika einen neuen Lebensgefährten. Einen begeisterten Radfahrer. Mit ihm will sie gemeinsam durch dessen brandenburgische Heimat radeln. Der Grund, warum sie sich bei Wolfgang Lukowiak zum Fahrradkurs für Anfänger angemeldet hat. Drei Frauen sind an diesem Dienstag in die Steglitzer Jugendverkehrsschule an der Albrechtstraße gekommen, in der Lukowiak die Trainingsstunden anbietet. Mehr als drei Anfänger nimmt der erfahrene Fahrrad-Lehrer nicht an, um jedem Teilnehmer gerecht werden zu können.

Das Gleichgewicht halten zu können, ist das A und O“

„Die Arme ausbreiten, ein Bein heben“, fordert er die Frauen auf. Einfach so? Ohne Fahrrad? Lukowiak nickt, die Frauen schwanken hin und her. „Wie ein Storch im Salat“, kichert eine, als sie die Balance verliert und aufs andere Bein wechselt. „Das Gleichgewicht halten zu können, ist fürs Radfahren das A und O“, erklärt Lukowiak. Um den Gleichgewichtssinn anzuregen, lässt er die Teilnehmerinnen durch einen Geschicklichkeitsparcours laufen – über Gummireifen, einen Holzbalken und Kettenglieder einer Stahlkette müssen sie balancieren. Erst wenn das klappt, lässt sie der Trainer aufs Zweirad. Nein, noch nicht auf ein Fahrrad. Das kommt erst am zweiten Trainingsabend an die Reihe. Sondern auf einen Kinderroller. „Der hat die gleiche Fahrphysik wie ein Fahrrad“, erklärt er. Der Unterschied: „Aus sieben Zentimetern Höhe können Sie jederzeit abspringen, wenn Sie sich unsicher fühlen.“

Auffrischungskurs Fahrradfahren BerlinErst rollern, dann radeln: So wird der Gleichgewichtssinn trainiert. – © radfahrschule

Warum er nicht auf Fahrrädern mit Stützrädern üben lässt? „Bääh“, sagt Lukowiak verächtlich. „Das bringt gar nichts.“ Sei eher kontraproduktiv, wenn man den Gleichgewichtssinn schulen wolle. Die Teilnehmerinnen erwartet unterdessen die zweite Übung: „Dosiert bremsen, nicht überreißen.“ Danach sollen sie Kreise und Achten fahren auf dem gelb markierten Parcours. „Irgendwann können sie das auch auf einem 28er-Fahrrad – einhändig“, ermuntert Lukowiak die Frauen. „Das ist dann die Königsdisziplin.“ Bis es so weit ist, müssen Monika, Christine (48) und Angela (57) voraussichtlich noch fünf weitere Abende üben. Für Erwachsene, die noch nie auf einem Fahrrad gesessen haben, kalkuliert Lukowiak 18 Termine ein. Jüngere mit Vorkenntnissen seien meist nach zwölf Terminen sicher im Sattel. Wer einfach nur ungeübt und etwas unsicher sei, schaffe es binnen sechs Terminen. „Dass es jemand gar nicht hinbekommt, ist äußerst selten“, weiß der Mann, der seine Kurse seit 2003 anbietet. 90 Prozent seiner Klientel sind weiblichen Geschlechts: „Frauen geben Defizite einfach zu. Männer dagegen denken, sie können alles.“

Der Schulterblick ist unsere Lebensversicherung“

Eine Erfahrung, die auch Ralf Tober gemacht hat. Der Ingenieur hat zusammen mit Lukowiak schon häufig Radfahrtrainings in Unternehmen ausgerichtet. „Immer mehr Berliner fahren mit dem Rad zur Arbeit – und die Chefs wollen, dass ihre Beschäftigten gesund hin- und zurückkommen“, sagt Tober. Seit fünf Jahren steht Tober auch in Diensten des Berliner ADFC. „Unsere Fahrkurse richten sich eher an Menschen, die bereits radfahren können, aber ihr Verhalten im Berliner Verkehr trainieren wollen“, sagt ADFC-Sprecher Nikolas Linck. An Menschen wie Nica Cordeiro. Die 31-jährige Brasilianerin empfindet den Straßenverkehr in Berlin als „chaotisch und für Radfahrer ganz gefährlich“. Oft sei ihr unklar, wer Vorfahrt habe, gesteht sie offen ein. Vor fünf Jahren ist die Künstlerin aus Curitiba in die deutsche Hauptstadt übergesiedelt, mittlerweile hat sie sich ein Fahrrad zugelegt. „In Brasilien mögen die Autofahrer Radler meist nicht“, erzählt sie. Das Fahrrad sei dort eher ein Sportgerät für die Freizeit als ein Verkehrsmittel für die Großstadt. „Meine Leute packen ihr Fahrrad ins Auto und fahren damit raus in den Park.“ Im Drei-Stunden-Crashkurs beim ADFC muss Nica zunächst eine Stunde Theorie über sich ergehen lassen, bevor es raus geht auf die Straße. Ralf Tober erklärt den Unterschied zwischen Schutzstreifen mit gestrichelten Linien und Radfahrstreifen mit durchgezogenen Linien, „die man nicht überfahren darf“. Nica lernt, dass nur die Radwege mit den blauen Schildern benutzt werden müssen – „weil blaue Schilder Gebotsschilder sind“. Und dass sie an jeder Straßeneinmündung einmal nach links schauen muss, „das ist unsere Lebensversicherung“, bläut Tober seinen Schülern immer wieder ein.

„Nach außen selbstbewusst, aber innerlich defensiv fahren.“ Was das bedeutet, lernt Nica Cordeiro später in der Praxis. „Halt Abstand zu den parkenden Autos“, ruft ihr Tober zu. Erst ist er eine Zeitlang vor ihr hergefahren, jetzt lässt er sich zurückfallen, um ihr Verhalten zu beobachten. Anderthalb Meter Abstand soll sie einhalten. Damit nichts passiert, wenn jemand unachtsam eine Fahrertür aufreißt. Ein Autofahrer drängelt hinter Nica, hupt. „Lass dich nicht beirren“, schreit Tober durch den Verkehrslärm. „Der muss die Spur wechseln. Du fährst hier und du brauchst deinen Platz.“ Den Kreisverkehr hat Nica schon perfekt durchfahren, doch vor der nächsten Kreuzung hält sie lieber an, wartet auf Ralf. Vorm direkten Linksabbiegen hat sie noch Angst. „Du musst das Manöver nur rechtzeitig einleiten“, spricht ihr der Verkehrsprofi Mut zu. „Handzeichen nicht vergessen.“ Und: „Denk an den Schulterblick.“ Tober ist zufrieden mit seiner Schülerin. „Sie macht das schon gut.“ Wie viele Kursteilnehmer. „Die machen intuitiv vieles richtig. Da reicht oft positive Bestärkung“, erklärt der Fahrradlehrer. „Aber wenn ich merke, dass jemand total unsicher ist, sage ich auch: Steig lieber ab.“

#BIKEYGEES bringt geflüchtete Frauen aufs Rad

Bevor Nica nach Deutschland kam, hatte sie lange kein Fahrrad. Zuletzt als Kind. „Als Studentin wollte ich mir eins kaufen, mein Vater hat’s verboten.“ Ähnlich geht es vielen Frauen, die als Flüchtlinge nach Berlin kommen. Aus Syrien oder Afghanistan, aus Somalia oder dem Irak. „Viele wissen gar nicht, dass sie Radfahren mögen. Wenn sie’s erst können, wollen sie gar nicht mehr runter vom Rad“, erzählt Annette Krüger.

Trainingstermine Januar 2017
#BIKEYGEES hilft geflüchteten Frauen auf den Fahrradsattel. – © #bikeygees

Seit anderthalb Jahren bringt sie Frauen das Radeln und die Verkehrsregeln bei, hat dafür mit Anne Seebach die Gruppe #Bikeygees gegründet. Die ist offen für alle in Berlin lebenden Frauen, doch die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen sind geflüchtete Frauen. Denn Krüger und Seebach sowie die rund 60 aktiven ehrenamtlichen Helferinnen setzen Frauen nicht nur an jedem dritten Sonntag im Monat in der Verkehrsschule am Kreuzberger Wassertorplatz aufs Rad. Sie bieten ihr Radfahrtraining auch in Flüchtlingsunterkünften an – „überall dort, wo man uns reinlässt, wo wir willkommen sind“. Mittlerweile haben sie mehr als 300 Frauen „aufs Rad gekriegt“. Manche junge Frauen hätten es binnen einer Stunde gelernt, Ältere hätten auch mal einen ganzen Nachmittag oder mehrere Anläufe gebraucht. „Das ist eine Sache des Körpergefühls, der Körperspannung. Oft auch eine Kopfsache.“

Man ist sich sehr nah, wenn man einander abstützt“

Dass viele der Schülerinnen noch kaum Deutsch sprechen, sei kein Problem. „wenn wir durch die Flüchtlingsunterkünfte gehen und mit Fahrradhelm und Luftpumpe wedeln, ist schnell klar, warum wir da sind“, sagt Annette Krüger. „Und wenn wir beim Training rechts und links neben den Frauen hergehen, sie festhalten oder ein Stück anschieben, dann bedarf das auch nicht vieler Worte.“ Vielleicht sei die Erfahrung für beide Seiten so sogar intensiver: „Man ist sich sehr nah, wenn man einander abstützt.“ Viele der Helferinnen hätten zuvor noch keinen Kontakt zu geflüchteten Frauen gehabt. „Da kann man regelrecht zuschauen, wie schnell Ängste oder mögliche Vorbehalte abgebaut werden, wie das Verständnis füreinander, das Vertrauen zueinander wächst.“ Für sie sei es immer wieder beeindruckend zu sehen, wie glücklich die geflüchteten Frauen nach dem Training oft seien. „Wo sonst kannst du schon die Lebensrealität von Frauen binnen zwei Stunden verändern?“ Was die auf der Flucht durchgemacht haben, kann sie nur erahnen. „Beim Radfahrtraining bekommen die Frauen mal den Kopf frei“, das sei nicht der Ort zum Erzählen, nicht der Ort für Sozialarbeit.

Bedauerlich findet Annette Krüger, dass #Bikeygees noch immer keine öffentliche Förderung bekommt. Denn die Gruppe hilft Frauen nicht nur kostenlos aufs Rad, sie will sie auch mit Rädern ausstatten. „Dazu sind wir auf Spenden angewiesen und hoffen immer noch auf große Sponsoren. Und natürlich auf weitere Helferinnen.“

Radfahrschule.de
www.radfahrschule.de

http://adfc-berlin.de/service/angebote-verkehrssicherheit/radfahrkurse.html
www.bikeygees-berlin.org

1. Geburtstag & andere Termine 🚲🔧🎈🎁🎵🚲🔧🎈🎁🎵🚲🔧🎈🎁

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