Zum Beispiel: Medellín

Eigentlich ist das hier ja der Blog der Critical Mass Berlin. Aber wir schauen auch gern über den Tellerrand. Vor allem wenn es um Ideen für eine autofreie urbane Zukunft geht.

Vor ein paar Tagen gab es hier auf dem Blog einen Kommentar von einem Stuttgarter, Vater von drei (kleinen) Kindern, der am Stadtrand auf einem „Berg“ wohnt, 100 Höhenmeter über Innenstadtniveau. Die 8-15% Steigung sei den zwei älteren, bereits Rad fahrenden Kindern nicht zuzumuten, schrieb der Mann. Auch wenn wir bei zwei Kilometer Strecke auf 100 Höhenmeter nur auf eine durchschnittliche Steigung von 5% kommen, die den Kindern vielleicht zuzutrauen wäre, wir wollen uns da nicht einmischen. Warum aber, statt für den Transport von Menschen und Gütern als einzige Möglichkeit wieder nur ans Auto zu denken sein soll, will uns nicht in den Kopf. Schauen wir also aus der deutschen Dieselmetropole, wo grüne Spitzenpolitiker „Benzin im Blut haben“, mal über den Atlantik hinweg nach Kolumbien, nach Medellín.

Metrocable Linie K über der Calle 107 im August 2007. – Man beachte auch die Aufteilung des darunterliegenden Straßenraums: Fußweg, einspurige Straße, breiter Fußweg mit Einbuchtungen zum Ausweichen bei Gegenverkehr und zum Halten von Fahrzeugen. Keine Parkspur.

Schon 2012 ist Medellín vom „Wall Street Journal“ zur innovativsten Stadt der Welt gekürt worden. Auch wegen seines öffentlichen Nahverkehrs: neben einer Metro und einer Straßenbahn auf Gummireifen gibt es nämlich fünf Seilbahnen, die durch die Slums die Hügel hinaufführen und über das Metro- und Busliniennetz mit der Innenstadt verbunden sind.

Die fünf Linien H, J, K, L, M der Medellín Metrocable.

Die Metrocables rücken die Slums an die Innenstadt heran.

Die Metrocable bei der Station Santo Domingo Savio.  So könnte es auch in Stuttgart aussehen.

Von der Station Arví kommend hat man den spektakulärsten Blick über die Stadt.

Station Acevedo. – Rund 100 Millionen Fahrgäste transportieren die Metrocables jedes Jahr.

Blick über das Viertel Santo Domingo Savio im Nordosten zum Stadtzentrum …

… und den gegenüberliegenden Berg hinauf in den Sonnenuntergang.

Aber die Seilbahnen sind nicht alles. Im Armenviertel Comuna 13 überwindet seit 2011 die längste Rolltreppe der Welt einen Höhenunterschied von 28 Stockwerken, rund 130 Metern, und erleichtert den Bewohnern den Aufstieg an den steilen Hängen ihres Stadtteils.

Die Benutzung der in sechs Abschnitte unterteilten Rolltreppe ist gratis, ihr Bau hat umgerechnet gut fünf Millionen Euro gekostet.

Hatte jeder Weg von unten bis ganz nach oben früher etwa eine halbe Stunde Fußweg bedeutet, dauert die 384 Meter lange Fahrt jetzt nur noch rund sechs Minuten.

Die Idee hatte der „grüne“ Mathematiker Sergio Fajardo Valderrama, der 2004 zu Medellíns Bürgermeister gewählt worden war. Sein Motto lautete: „Den Ärmsten nur das Beste.“ Er wollte die Bewohner*innen der Favelas, wie die rund 12.000 Bürger*innen der Comuna 13, näher an das Zentrum und die Geschäftsviertel holen, indem er ihre Wege verkürzte.

Kein Wunder, dass die Stadt 2012 den Sustainable Transport Award gewonnen hat. Der wird seit 2005 verliehen. Eine deutsche Stadt war noch nie unter den Geehrten.


Hier noch der Hinweis auf eine über die TU Berlin kostenfrei beziehbare Publikation:
Frieder Kremer: Innovation Seilbahn – Potentiale für den urbanen Personennahverkehr und Positionen der beteiligten Akteure. ISR Impulse Online (ehem. Graue Reihe) 2015, 86 Seiten, ISBN 978-3-7983-2751-1:
http://www.ub.tu-berlin.de/publizieren/verlagsprogramm/isbn/978-3-7983-2751-1/
Mit Dank an Mario Timm via FB.

außerdem:
http://www.helloguideoporto.com/de/porto/wie-in-der-stadt-bewegen/seilbahn
https://de.wikipedia.org/wiki/Elevador_de_Santa_Justa
http://www.dresdner-bergbahnen.de/standseil.htm

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