Fahrrad
Gastbeitrag: Frust und Freuden
Mit Wohnmobil und Rad in Belgien und den Niederlanden unterwegs – ein Bericht aus Bewegungssicht von Nico Jungel
Umgebauter Krankenwagen, zwei Fahrräder hintendrauf. Los geht’s in Berlin, Ziel ist Boom in Belgien, ein Vorort der Stadt Antwerpen. Aber erst mal German Autobahn, mit 120 km/h rauscht der effizient genutzte Wagen, blablacar-Mitfahrer und sowieso zu siebt im Carsharing, in noch flachere und wesentlich windigere Gefilde.
Von Boom dann mit geliehenem Kleinwagen rein nach Brüssel. Der Brüsseler Verkehr erinnert an den europäischen Verwaltungsapparat: dicht und langsam. Und lückenlos. In Brüssel fährt man nicht Auto, man bewegt es von Zeit zu Zeit. Ein auffällig angezogenes Paar konnten wir nach einer Strecke von ca. fünf Kilometern wieder an unserem Auto vorbeilaufend, nein, -schlendernd!, ausfindig machen. Wir brauchen eine Stunde vom Stadtrand, bis das Auto geparkt ist.
Fahrradfahrer? Fehlanzeige. Hier und da mal wer in Signalmontur. Ein paar Tage später sitzen wir selbst auf dem Rad, und uns wird schnell klar, warum wir so ziemlich die Einzigen sind. Fahrradwege sind kaum vorhanden, zwischen und neben den Autos kommt man kaum durch, da diese selbst schon jeden halben Meter nutzen. In der Hackordnung stehen wir eindeutig unten. Dass das gesamte Stadtgebiet eigentlich Parkzone ist und somit nur Anwohnern und gebührenunempfindlichen Personen vorbehalten, bringt nichts. Es lärmt und hupt und macht überhaupt keinen Spaß, von der Stadt nehmen wir nur etwas wahr, wenn wir anhalten.
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Night-Ride in Prag
Prags Großbauprojekt heißt Blanka. Der längste innerstädtische Straßentunnel Europas soll die völlig verstopfte Prager Innenstadt vom Verkehr entlasten – seit 2007 wird gebaut, in Betrieb genommen werden sollte der Komplex bereits 2011. Doch seit Jahren warten die Prager Autofahrer*innen auf die Eröffnung. Die Bürgermeister kommen und gehen, die Firmen und Rechtsanwälte verdienen, inzwischen traut sich niemand mehr, auch nur einen Termin für die Eröffnung zu nennen. Und Verkehrsexperten zweifeln, ob der Tunnel überhaupt den gewünschten Effekt haben und nicht noch mehr Verkehr verursachen wird.
Blanka ist also das Schönefeld Prags – die Probleme ganz ähnliche: Beleuchtung, Lüftungsanlage und elektronische Steuerzentrale im Dauertest. Die ursprünglich angesetzten 21 Milliarden Kronen (ca. 765 Millionen Euro) für den Bau haben sich inzwischen auf rund 37 Milliarden Kronen (ca. 1,35 Milliarden Euro) fast verdoppelt.
Eigentlich schade, dass mehr als 6 Kilometer asphaltierte mehrspurige Superstraße, beleuchtet und überdacht, so ungenutzt sind, dachten sich da einige Prager Fahrradaktivist*innen – und machten sich an einem Abend Ende November auf – der Namenstag von Blanka (2.12.) stand kurz bevor! -, um den Tunnel mal auszuprobieren.
Martin Kontra vom BAJKAZYL, seine Söhne Nikola (Niki) und Andrej (dessen Idee das Ganze war), außerdem Eliška, Jára, Urna und Teo. Das sind: 2 Skateboards, 2 Single Speeds, ein Straßenrad, ein MTB und ein Fixie.
Autotunnel üben ja auch in Berlin eine gewisse Faszination und Anziehungskraft auf Radfahrer*innen aus. Die, die bei der CM schon länger dabei sind, kennen das nervenkitzelnde Spiel um den Tiergarten-Tunnel. Der ist allerdings befahren, was die Sache durch die ungewarnt reinbrausenden Autos ziemlich gefährlich macht. Aber ein LEERER Tunnel?
Erster Check – Tunneleinfahrt auf Höhe des Sparta-Stadions. Im Wachhäuschen ein Typ vor der Glotze, daneben ein geparktes Auto. Kurze Absprache unterhalb der Kamera, dann fahren wir weiter. Wir wissen von einigen Leuten, die schon auf Longboards durchgefahren sind, dass einige von ihnen Strafe zahlen mussten. In der Theorie sah alles sehr einfach aus, jetzt dagegen müssen wir unsere großen Räder an Wachmann, Licht und Zaun vorbeibekommen – kein Spaß!
Das Einzige, worauf man sich verlassen kann, ist die Unaufmerksamkeit der Wachmannschaft. Wir suchen weiter. Die Einfahrt unterhalb der Prasny-Brücke sieht vielversprechender aus. Kein Auto, im Häuschen eine angenehm wirkende junge Frau, die Kamera nimmt nur den Tunneleingang auf. Wir gehen seitlich am Zaun entlang, Richtung Tunneleinfahrt, suchen uns eine Stelle mit einem Höhenunterschied von ca. 2 Metern über der Fahrbahn. Hier sind zwei Zäune.
Die Zäune mit ein paar Longboards auf dem Rücken zu überwinden ist ein Kinderspiel gegen das Drüberwuchten der Räder, vor allem wenn so ein hyperschwerer alter Stahlrahmenkoloss dabei ist.
Aber sie schaffen’s. Werfen die Räder über die Zäune, klettern selbst hinterher, dann kurzes Warten, ob sich im Wachhäuschen was regt. Nichts. Die junge Frau schaut weiter Fernsehen, für sie ist dank der riesigen Werbetafel vorm Fenster nichts zu sehen. Und die Kamera überwacht die andere Straßenseite, das Chaos dort lenkt vom Chaos direkt vor ihrer Nase ab.
Also alles perfekt, es gibt keinen Grund, länger zu warten. Jára gibt den Befehl, es geht los.
Der Plan: unauffällig den Tunnel infiltrieren.
Jára und Kontra springen von der Betonmauer auf den Asphalt. Die anderen reichen ihnen die Räder runter. Dann springt auch der zehnjährige Niki mutig in den zwei Meter tiefen Abgrund, der Rest hinterher – in weniger als einer Minute sind alle auf der Fahrbahn.
Jára zischt als Erster los, der Adrenalinspiegel steigt. Der dritte Zaun lässt sich einfach umfahren, sie ziehen links an ihm vorbei in den Tunnel. Durch das leichte Gefälle vom Stadtteil Letna nach Troja nehmen sie schnell Fahrt auf. Räder und Boards beschleunigen.
Andrej und Teo nehmen den Tunnel mit maximaler Eleganz in Angriff, Niki fährt freihändig, merkt erst jetzt, dass er den Helm vergessen hat. Urna holt den Fotoapparat raus, Jára fährt Slalom, Kontra versucht dasselbe freihändig, Eliška ist begeistert, alle bester Stimmung.
Kein Wachschutz, kein Einsatzfahrzeug … von der Tunneldecke wunderbares gelbes Licht, alles ganz neu, die roten Ampellichter leuchten. Und unter uns der Sound des Gummis.
Nach einigen weiteren 100 Metern geht es schon wieder bergauf. Die Moldau ist unterquert, und sie befinden sich wieder oberhalb des Wasserspiegels, jetzt geht es rauf nach Troja. Die letzten 100 Meter werden richtig steil, Jára und Kontra spielen Lokomotive, ziehen Teo und Andrej auf ihren ziemlich lahmen Brettern den Hügel rauf.
Der letzte Zaun kommt näher, aber kein Wachmann, keine Kamera, nichts. Völlig ungestört werfen sie die Räder und Boards über den Zaun, springen hinterher. Und da ist schon der Mond, leuchtend gelb am nachtschwarzen eisklaren Winterhimmel.
Große Freude … Über uns strahlt die neue Troja-Brücke, die Wolken hängen tief, überall Lichter … und zwei Sachen sind klar: Wir sind die Ersten, die da mit Rädern durch sind. Und: Prag ist mal wieder ein klein wenig großartiger geworden.
VIDEO: Night-Ride in Prag
Fotos / Zeichnungen => Bajkazyl
Wie lange dauert es, bis Berlin zur Fahrradstadt wird?
Kurz notiert: Schon vor einigen Tagen haben wir über Andreas Baum berichtet (Sind Fahrradtouren erlaubnispflichtig?) Heute möchte ich euch auf ein Video hinweisen, das schon einige Monate alt, aber keineswegs weniger interessant ist.
Radfahren auf der Fahrbahn erlaubt.
RADFAHREN AUF DER FAHRBAHN ERLAUBT.
RADWEGEBENUTZUNGSPFLICHT AUFGEHOBEN.
In Hamburg-Lurup gibt es ein Pilotprojekt zur Information der PKW- und LKW-Lenker zur Nutzung des Strassenraums. Es wird mit neuen Schildern darauf hingewiesen, dass Radfahrer*innen – schon längst (seit 1. September 1997) – auf der Straße fahren dürfen. Der ADFC-Hamburg kommentiert den Versuch positiv.
Hier geht’s zum Beitrag des NDR: —>>
Ingenieure bei Siemens
In der “ZEIT” vom 11. September findet sich im Job-Teil ein Interview mit dem Entwicklungsleiter Intelligent Traffic Systems bei Siemens, Wilke Reints, 40. Hier ein längeres Zitat, ein wunderbarer Kommentar zu dem bei ALLE MACHT DEN RÄDERN erschienenen Versuch, das Phänomen Radfahrer-fahren-bei-Rot zu erklären.
ZEIT: Es gibt Regionen auf der Welt, da hält man Ampeln nur für unverbindliche Empfehlungen …
REINTS: Das habe ich schon oft live erlebt. Ich bin geschäftlich viel in Peking – da kann es durchaus passieren, dass Sie bei Grün umgenietet werden. Wir Nordeuropäer sind gewohnt, dass wir bei Grün schadlos die Straße überqueren können. In anderen Ländern ist es anders, die Menschen dort können aber damit umgehen.
CRITICAL MASS: l’utopie cycliste à l’assaut de bitume berlinois
In dem schicken französischen Magazin LES INROCKS ist eine Reportage über die Berliner CM erschienen, die Anliegen, Atmosphäre, Geschichte, Reaktionen bei Mitfahrenden wie Zuschauenden wunderbar rüberbringt. Geschrieben hat sie Annabelle Georgen.
Hier sei nur das Ende zitiert, auf Deutsch:
Loïc, der aus Frankreich nach Berlin gezogen ist und tagsüber als Fahrradkurier unterwegs ist, teilt seine Begeisterung mit:
“Hör doch mal diese Stille, so könnte eine grüne Stadt ohne Autos sein. Man macht sich nicht klar, dass man in einer Welt voller Lärm, voller Autos lebt. Die CM gibt die Möglichkeit, die Stadt von morgen zu erfinden. Das Fahrrad ist eins der kleinen Samenkörner, mit denen man die Welt verändern kann.”