Am 26. November 2014 erschien in der Online-Ausgabe des Londoner Wochenblatts „The Telegraph“ ein Erfahrungsbericht des pendelnden Radfahrers Hugh Morris. Darin fragt er sich, weshalb Radfahrer bei anderen Straßennutzern, insbesondere Car-Usern, solche Aggressionen auslösen, dass sie diese nicht nur verbal attackieren, sondern ihre Fahrzeuge sogar als Waffen gegen sie einsetzen.
Arne Ludorff hat nach dem Lesen des Beitrags eine Psychologie des Automobilisten entworfen – Versuch einer Antwort in sechs Thesen.
1. Der abgeschlossene Raum eines Pkw schafft eine eigene Realität
Oben, unten, vorne, hinten, links und rechts ist Blech, der Pkw ist ein abgeschlossener Raum. Das schafft Distanz. Die Wahrnehmung der Welt da draußen passiert durch die Windschutzscheibe. Wie im Kino oder Fernsehen: Das, was hinter der Mattscheibe, hinter der Windschutzscheibe geschieht, geschieht nur mittelbar.
Die Wirklichkeit außerhalb des Pkw wird zum Strang an Eindrücken, der von einem Strang bloßen Erzählens nicht zu unterscheiden ist. Draußen regnet es, aber man selbst sitzt im Trockenen; die Scheibe schützt vor dem rauen Wind. Während aber im Kino die Grenze zwischen Erzählung und Wirklichkeit verschwimmt, wird beim PKW-Fahren die Wirklichkeit hinter der Windschutzscheibe zu einem Nebensatz verkürzt, der nicht mehr berührt. Die Ampel schaltet auf Rot – schnell noch Gas geben und rüber. Die Frau mit Kinderwagen – muss sehen, wo sie bleibt, ist auch schon weg, nur noch eine Ahnung im Rückspiegel. Dann, beim Rechtsabbiegen, ein verdammter Radfahrer, was macht der auch auf der Straße – Game over.
2. Die Wahrnehmung der Außenwelt ist eingeschränkt
Wer in der Fahrgastzelle sitzt, bekommt weniger mit als der, der seine Nase im Wind hat. Das Sichtfeld ist durch A-, B- und C-Säule eingeschränkt, und auch durch die Kopfstützen. Der Schulterblick wird ab einem gewissen Alter schwierig. Geräusche werden gedämpft; andere Verkehrsteilnehmer sind nicht zu hören, es sei denn, sie machen sich durch Hupen bemerkbar. Riechen, auch das kann Informationen bspw. übers Wetter oder den Zustand der Straße geben, fällt aus. Ergomotorik, na ja, ein bisschen durch die Fliehkräfte in den Kurven und beim Beschleunigen/Bremsen; ansonsten sitzt man im Pkw gut gefedert. Um die Sinne nicht zu unterfordern, schaltet man das Radio ein. Oder telefoniert.
3. Die Windschutzscheibe als venezianischer Spiegel
Der venezianische Spiegel ist halb durchlässig: Er lässt den Blick in eine Richtung passieren, in der anderen ist man vor Blicken geschützt. Das Innere des Pkw ist für die Außenwelt fast nicht einsehbar. Blickkontakt, Handzeichen, jede Form von Kommunikation wird damit erschwert. Nur nicht die mit sich selbst. Der Pkw wird zum Beschleuniger der eigenen Psyche. In ihm lässt sich großartig fluchen und schimpfen, aller Frust, der sich in der Seele angesammelt hat, kann endlich raus.
Will man aber, aus dem Inneren des Pkw, doch etwas nach außen mitteilen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Hand auf die Hupe und/oder Fuß aufs Gaspedal.